Gedanken aus der Beobachtung eines Sterbens geboren

Mein Onkel sitzt.

Er sitzt in seinem Sessel, in den er sich mit aller seiner vorhandenen Kraft noch begeben kann.
Er sitzt in seinen letzten Tagen auf dieser Erde: er sitzt im Sterben. Das ist die würdevolle Position, in der er dem Leben noch begegnen kann.
Meine Mutter und seine Freundin, die Onkel Reinhard nach dem Tod seiner geliebten Inge gefunden hat, begleiten ihn.

Es gibt gute und es gibt leidende Momente für ihn. Vor allem leidet er an der Bewusstheit seiner schwindenden Kräfte. Er, der sich in seinem Leben immer auf seine Kräfte verließ, auch wenn er sie eigentlich gar nicht haben konnte – als er einen neuen Start in Wuppertal für sein künftiges Leben begründete – in der Nachkriegszeit, 18-jährig, müde, mittellos und hungrig.

Ich denke an ihn mit Gefühlen von Verbundenheit, sehe vor meinem inneren Auge seine wachen und beim Lachen gewitzten Augen, höre seiner tiefe Bassstimme. Gelacht, ja, dass hat er gerne – und das mit anderen gemeinsam. Unterwegs war er viel, gemeinsam mit Tante Inge und später mit Gisela. Ich kann mich gut an seine Erzählungen erinnern. Als Kind kamen sie mir immer ein bisschen bunter vor als mein eigenes Leben. Ich liebte die Berge, aber wenn die beiden (also Reinhard und Inge) aus ihren Urlauben wiederkamen und mir gelbe Galoschen mit goldenen Verzierungen aus einem arabischen Land mitbrachten, dann war das anders als das, was ich mir vorstellen konnte … wie ein Gruß aus einer fernen Welt.

Und nun sitzt er im Sterben – in seiner viel zu dunklen Wohnung. Und schaut auf einen dunklen Fernseher, der nicht mehr läuft, weil es ihm nicht mehr wichtig ist.

Und ich merke, ich möchte nicht über ihn schreiben, sondern ihm etwas sagen aus der Ferne:

Ich danke Dir, lieber Onkel Reinhard, im Gebet und in Gedanken, für die Freude, die Du in mein Leben gebracht hast und für die Liebe und Treue zu meiner Mutter, Deiner Schwester.
Mach es gut auf Deinem letzten Weg!  Von dem man sagt, es sei ein Abenteuer. Ist es das?
Du wirst es bald wissen, wenn es so etwas wie Wissen gibt darüber, was dann kommt – so wie Deine Inge, mein Papa, eure Eltern.

Ich wünsche, Du hast alles dabei!

Beeindruckt bin ich von der Ruhe, die Du zeigtest, als ich Dich das letzte Mal sah.
Beeindruckt bin ich von der Kreativität, die ich mir Dir gemeinsam in unserer letzten persönlichen Begegnung erleben durfte: Du stirbst in Corona-Zeiten, begreifst, dass dies Auswirkungen auf die menschlichen Kontakte hat. Wir begrüßten uns mit einem Fußkick und Weitergabe eines Streicheln über ein Schwein-Stofftier! Was für ein wunderbarer Umgang mit nicht veränderbaren Restriktionen durch einen nicht sichtbaren Corona-Feind!
Deinen letzten Blick werde ich im Herzen behalten!

Und eine überraschende Erkenntnis habe ich für mich noch ganz persönlich finden dürfen, für mein eigenes Leben:
Sollte ich nicht plötzlich von dem Leben auf dieser Welt getrennt werden – dann wäre mir in meiner heutigen Vorstellung wichtig, mich geliebt zu wissen. Und ich bräuchte Licht, viel Licht – und ich wünschte mir einen Ausblick mit Weite.

Danke für diese Erkenntnis, die ich durch die Begegnung mit Dir und Deinem Sterben finden konnte. Danke für Alles!

Am 29.05.2020 hat Onkel Reinhard seine letzten Atemzüge in unserer Welt erlebt.